Autismus-Spektrum - auch betroffenene Kinder und Jugendliche wollen gehört werden!

In der Schweiz sind mindestens 1 % der Kinder und Jugendlichen von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) betroffen. Auf internationaler Ebene liegen die Angaben mit bis zu 2,24 % teilweise noch höher. In der Schweiz muss daher von über 17‘000 betroffenen Kindern und Jugendlichen ausgegangen werden. Sie sind von Schulwechseln, Behördenentscheiden und Scheidungen mindestens ebenso betroffen wie Gleichaltrige. Doch im Gegensatz zu diesen haben sie oft deutlich mehr Mühe, Gehör zu finden: denn auch wenn sie sich verständigen können, werden sie leider allzu oft nicht verstanden.

Die unten zum Download zur Verfügung gestellte Checkliste soll dabei helfen, Gespräche mit ASS Betroffenen besser zu planen und durchzuführen - und so auch diesen Kindern und Jugendlichen eine Stimme zu geben!

Checkliste Gesprächsführung_Autismus.pdf

Dieses Dokument ist auch auf der Homepage von Autismus Deutsche Schweiz abrufbar.

Checkliste für Gespräche mit Kindern und Jugendlichen im Autismusspektrum:  

Bei vielen der nachfolgenden Punkte geht es um eine Verminderung von Reizen (Lärm, Licht, Geruch, Berührung), Herstellen von Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit (alles, was von Routine abweicht, kann Angst und Blockaden verursachen) sowie Temporeduktion (Zeit und Pausen zulassen).

Wichtig ist, nicht nur auf Defizite, sondern auch auf Stärken zu setzen. Diese sind u.a.: Loyalität, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Direktheit, Detailgenauigkeit, bildliches Denken, Logik, Sensibilität und Gerechtigkeitssinn.

Vor allem aber gilt: jedes Kind ist anders – auch Kinder und Jugendliche aus dem Autismus-Spektrum! 

1. Vorbesprechung und Einladung an das Kind

  • Mindestens zwei Wochen vor dem geplanten Gespräch Kontakt mit Bezugspersonen und Betreuern aufnehmen: Welche Stärken, Besonderheiten oder Ängste gibt es und wie kann darauf reagiert werden? Was sind Lieblingsobjekte und Lieblingsthemen des Kindes? Welche Körperdistanz ist nötig? Ist Händeschütteln ein Problem? Wie wird das Kind auf den Besuch vorbereitet? Ist die geplante Tageszeit des Termins für das Kind günstig oder muss verschoben werden? Muss die Bezugsperson beim Gespräch anwesend sein oder kann das Kind alleine teilnehmen?
  • Planen, wo das Gespräch stattfinden soll: Gibt es einen geeigneten reizarmen Raum und wie ist der Weg dorthin?
  • Abklären, ob das Kind in Begleitung eines Tieres (z.B. Autismus-Begleithund) kommt: Falls ja, ist der Raum dafür geeignet und der Hausdienst eventuell vorinformiert?
  • Schriftliche Einladung schicken, vielleicht mit Bildern und Symbolen.
  • Grund, Zeitpunkt, Dauer und Ziel des Gesprächs klar kommunizieren, angepasst an die Reife des Kindes. Das Gespräch sollte möglichst nicht länger als 45 Minuten dauern. Bei kleinen Kindern weniger.
  • Infos zu allen Gesprächspersonen und deren Funktion (ev. mit Foto) schicken. Nur so viele Personen wie unbedingt nötig sollten am Gespräch teilnehmen.
  • Bei älteren Kindern/Jugendlichen genauen Wegbeschrieb, Karte und/oder Fahrplan mitschicken.
  • Hinweis, dass für Pausen Spielzeug, ein Buch, Handy, Tablet etc. mitgenommen werden kann.
  • Heimweg planen: wer holt das Kind ab? Wie wird sichergestellt, dass der Jugendliche den Heimweg findet?

Alle diese Vorbereitungen dienen nicht nur dazu, dass die Kinder und Jugendlichen rechtzeitig am richtigen Ort erscheinen, sondern auch in einer Gemütsverfassung sind, die ein Gespräch sinnvoll und für beide Seiten gewinnbringend macht. Zu viele Reize, Unvorhersehbares und Überforderung können dazu führen, dass das Kind austickt (Wutanfall) oder mit Kopf- oder Bauchschmerzen reagiert und ein Gespräch unmöglich wird. Dies gilt es unbedingt zu vermeiden! Es empfiehlt sich, am Vortag vor dem Gespräch nochmals Kontakt aufzunehmen, um die Reaktionen des Kindes und allfällige Neuigkeiten zu erfahren.

Penetranter Eigengeruch oder Deodorants der Gesprächsteilnehmenden können ebenfalls zu sensorischer Überlastung führen!


2. Unmittelbar vor dem Gespräch (überlegen Sie sich die folgenden Fragen)

  • Ist das Zimmer gut gelüftet? Was könnten Störfaktoren sein, gibt es Lärmquellen wie Verkehr, das Surren einer Lampe etc.?
  • Wie sind die Lichtverhältnisse? Störend kann sein, wenn das Licht zu grell oder zu dunkel ist. Gibt es flimmerndes Neonlicht oder direktes Sonnenlicht?
  • Sitzordnung: ist freie Sitzwahl möglich? Rückzugsmöglichkeiten? Fluchtmöglichkeiten? Allenfalls schräge Sitzordnung, damit das Kind nicht andauernd gezwungen ist, in Augenpaare zu blicken und so in seiner Konzentration gestört ist.
  • Sind für das Kind alle Anwesenden gut im Blickfeld (Übersicht)?
  • Glattes weisses Papier und schöne Stifte als Kommunikationshilfen bereitstellen, falls das Kind oder die übrigen Gesprächsteilnehmer etwas aufzeichnen oder visualisieren möchten.
  • Kratzende Polsterbezüge, quietschende Möbel oder „laute“ Oberflächen vermeiden.
  • Ev. Wassernapf und Decke für den Autismus-Hund bereitstellen.
  • Wasser und Gläser, Sonstiges gemäss Vorbesprechung vorbereiten.

 

3. Das Gespräch

  • Das Kind nicht in einem öffentlichen Wartezimmer oder an einem ungemütlichen Ort warten lassen. Pünktlichkeit nicht nur vom Kind einfordern!
  • Muss das Kind noch aufs WC? Den Weg zeigen oder mitgehen.
  • Bei der Begrüssung auf die vorher erfragten Informationen Rücksicht nehmen. Anwesende vorstellen (dieselben, wie im Schreiben angekündigt)

a).   Gespräch über das Gespräch (Metakommunikation)

  • Grund und Ablauf des Gesprächs je nach Entwicklungsstand des Kindes präzisieren: Dauer, Thema, Abschluss, Ziel. Evtl. nochmals auf Einladungsschreiben verweisen. Gibt es nach dem Gespräch ein Protokoll und wann erhält das Kind dieses? Evtl. diese Informationen schriftlich aushändigen.
  • Regeln des Gesprächs festlegen: Muss das Kind aufstrecken, wenn es etwas sagen möchte? Wie soll es die Anwesenden ansprechen? Darf es
    während des Gesprächs aufstehen oder umhergehen? Darf es mit dem Stofftier spielen? Was ist mit dem Handy? Regeln klar definieren! Wie kann es mitteilen, wenn es eine Pause braucht? Was soll es machen, wenn ihm alles zu viel wird? Rotes Stoppschild zum Hochhalten? Evtl. Notfallszenario ausprobieren, um dem Kind Sicherheit zu geben.
  • Heimweg nochmals klären (wer holt es ab und wo ist der Ausgang?
  • Zeit nehmen für Rückfragen an das Kind: Findet es genau jetzt etwas störend? Was beschäftigt das Kind jetzt gerade? Was ist ihm wichtig?
  • Vertrauen schaffen! Nicht die Befragenden ins Zentrum stellen, sondern die Bedürfnisse des Kindes!

b)   Hauptteil des Gespräches

  • Gesprächseinstieg: Mit dem Kind zuerst über sein Lieblingsinteresse reden. Das Kind darüber referieren lassen und Rückfragen stellen. Dann sorgsames Überleiten aufs eigentliche Thema. Bei jüngeren Kindern kann z.B. auch gemeinsam ein Puzzle gelöst werden oder mit einem anderen Lieblingsspiel der Kontakt geknüpft werden.
  • Gesprächsführung: Klare Aussagen machen, rasch auf den Punkt kommen. Zweideutigkeiten, rhetorische Fragen und Ironie vermeiden. Sich selber an die vereinbarten Regeln und Abläufe halten. Dabei Stille zulassen und nicht mit „Wörterdurchfall“ füllen (das ASS Kind kann nicht gleichzeitig zuhören und die eigenen Gedanken sortieren). Das Kind ausreden lassen und mit ehrlichem Interesse zuhören. Klare und direkte Fragen stellen, Tätigkeiten anstatt Gefühle abfragen. Logik und Sachlichkeit anstelle von Gefühlen und Smalltalk!
  • Erklärungen und Zusammenhänge können auch mittels Bildern, Grafiken und Übersichtstafeln erklärt werden. Das Kind auch ermuntern, selber zu Farbstift und Papier zu greifen.
  • Lautstärke und Tempo anpassen: Eine zu laute Stimme kann das Kind überfordern, bei zu schnellem Tempo kann der Inhalt nicht verarbeitet werden.
  • Pausen klar als solche deklarieren: Evtl. zwischendurch ein Fenster öffnen und lüften, das Kind sich zurückziehen lassen. Bewegung zum Stressabbau akzeptieren, evtl. sogar mit dem Kind spazieren gehen. Aufgabe der Gesprächsteilnehmer ist nicht Erziehung, sondern Anhörung des Kindes. Das Kind soll daher nicht die Erwartungen der Anwesenden erfüllen müssen, sondern seine eigenen Gedanken in Ruhe und auf seine Weise ausdrücken dürfen.
  • Sowohl Unterforderung als auch Überforderung vermeiden: ASS Kinder brauchen vielleicht manchmal mehr Zeit, sie sind deswegen aber nicht dümmer. Bei Unterforderung fühlen sie sich nicht ernst genommen und verabschieden sich aus dem Gespräch. Auf Körpersignale ist dabei kein Verlass, da sich ASS Kindern oft anders ausdrücken. Bei starrer werdendem Gesichtsausdruck oder anderen Äusserungen ist es daher am sichersten, sofort und direkt nachzufragen!
  • Reaktionen und Antworten des Kindes ernst aber nicht persönlich nehmen: In der Regel sind ASS Kinder ehrlich, direkt und ohne Hintergedanken. Sie äussern ihre Meinung oft ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen.
  • Zurückhaltung bei Körperdistanz und Körperkontakt: Keine plötzlichen Berührungen, auch wenn diese gut gemeint sind! Die Initiative dazu immer beim Kind lassen oder nachfragen! Allgemein alles vermeiden, wodurch das Kind erschrecken könnte (Lärm, schnelle Bewegungen, Unvorhersehbarkeit, Störungen).

 

c)   Abschluss des Gesprächs

  • Das Kind wird informiert, dass das Gespräch bald zu Ende sein wird.
  • Die Gesprächsleitung wiederholt, was besprochen wurde. Was sind Erkenntnisse, Resultate und Abmachungen? Weshalb? Besteht Einigkeit? Gibt es offene Fragen? War das Gespräch in Ordnung für das Kind? Erhält das Kind ein Protokoll oder weitere Informationen? Wann?
  • Rückmeldung geben, welche Aussagen oder welches Verhalten des Kindes den anderen Teilnehmenden besonders Eindruck gemacht haben. Sich beim Kind für das Gespräch bedanken (Wertschätzung). Braucht es noch etwas? Will es noch etwas ergänzen?
  • Das Kind wird hinaus begleitet und es wird sichergestellt, dass es gut nach Hause kommt. Wird es abgeholt? Findet es den Heimweg? Das Gespräch ist erst abgeschlossen, wenn das Kind wohlbehalten zu Hause ankommt.
Ich würde mich sehr freuen, wenn durch diese Checkliste mehr Kinder und Jugendliche Gehör finden und ein ansprechendes und ermutigendes Gesprächsklima vorfinden!

Anhang                       

Alter des Kindes und ASS Diagnose

Je älter das Kind ist, desto besser hat es sich meist an die Aussenwelt und die ungeschriebenen Gesprächsregeln angepasst. ASS ist keine starre Diagnose, sondern ein dynamischer Prozess von Anpassung und Frustration. Das Alter des Kindes kann dabei nur bedingt Auskunft über seine Entwicklung geben. Da im Vergleich zu Gleichaltrigen die Entwicklung der Fähigkeiten unterschiedlich schnell verläuft, kann beispielsweise ein Zehnjähriger im Sprachgebrauch mehrere Jahre voraus, im sozialen Bereich jedoch noch im Vorschulalter sein. Das Gespräch sollte sich daher nicht nach dem Alter des Kindes richten, sondern nach seinem jeweiligen Entwicklungsstand. Dieser kann vor dem Gespräch nur in Kontakt mit den Bezugs- oder Betreuungspersonen in Erfahrung gebracht werden.

Schriftliche Kommunikation

Es macht keinen Unterschied, ob die Kinder schon lesen können oder nicht: sie profitieren in jedem Fall von schriftlichen Informationen. Sie sehen beispielsweise den Brief (eventuell mit Beilagen oder Bildern) und können so seinen Inhalt besser verstehen und mit der Bezugsperson besprechen.

Die Schreiben sollten nur die notwendigen Informationen enthalten, Redewendungen, Phrasen und verbale Schnörkel sind möglichst wegzulassen. Emotionsgeladene Briefe ebenfalls unbedingt vermeiden, da sie eher Missverständnisse und im schlimmsten Fall Angst verursachen können. Ein kurzes, übersichtliches und in Titel und Abschnitte gegliedertes Schreiben hilft dem Kind. Es sollte für die Kinder zudem klar nachvollziehbar sein, was verlangt wird und weshalb. Falls der Brief mehrseitig ist, empfiehlt es sich, die Rückseiten nicht zu verwenden: die Gefahr ist sonst gross, dass diese übersehen werden!

Auch während eines Gesprächs kann mit Vorteil zum besseren Verstehen mit Papier und Stift visualisiert und kommuniziert werden.

Nach einer Besprechung kann schriftliche Kommunikation wiederum hilfreich sein. Zur besseren Informationsverarbeitung wird dabei nochmals festgehalten, was weshalb genau beschlossen wurde und wie es später weiter geht.

Mündliche Kommunikation

Wie bei der schriftlichen Kommunikation auf Sachlichkeit, Klarheit und Übersichtlichkeit achten: Sarkasmus, Ironie, Zweideutigkeiten und rhetorische Fragen unbedingt vermeiden. Zudem beachten, dass die Kinder oft Mühe haben, Emotionen oder einfachste Bedürfnisse zu kommunizieren. So kann es auch einem 15-Jährigen unter Umständen kaum möglich sein zu erklären, er müsse jetzt aufs WC. Oder es ist jemandem unmöglich, an eine verschlossene Türe zu klopfen.

Weitere hilfreiche Informationen zu diesem Thema

  • Todd Samantha (2015): Eine eigene Welt. Einblick in das Autismus Spektrum. Übersetzt von Iris Halbritter / Karsten Petersen, Kommode Verlag GmbH, Zürich [Orig. The Little Book of the Autism Spectrum. Independent Thinking Press, Imprint Crown House Publishing Ltd., Wales UK
  • Delfos Martine F. (2015 Bände I und II): Gesprächsführung mit Kindern 4-12 Jahre und Jugendlichen 13-18 Jahre. Beltz Verlag, Weinheim und Basel. [Orig. Luister je wel naar mij? Gespreksvoering met kinderen tussen vier en twaalf jaar / Ik heb ook wat te vertellen! Communicerenmet pubers en adolescenten. M.F. Delfos, Uitgeverij SWP Amsterdam 2014].

 

Corinne Bühler, Zürich, 25.2.2020